Heidi
Jessas, wo bin ich da bloß hingeraten?? Am 18.10.2020, Sonntag abend ist es, bin ich auf die Welt gekommen. Was für ein Ereignis! Schon durch die dünne und trübe Haut der Fruchtblase hab ich's allerweil blitzen gesehen. Wie die Haut dann endlich weg war konnte ich es erkennen: mindestens ein halbes Dutzend Leute standen um uns rum und vor der Stallbox und haben alle nur mich angekuckt. Sowas. Ich bin doch neu hier. Warum kuckt Ihr auf mich?? Und schon wieder blitzt es, ach das ist eine Kamera. Herrjeh, nach der Anstrengung hat man nicht mal seine Ruhe. Mich stupst eine schwarze Nase, muß meine Ma sein, die Hedda. Dann raspelt sie mit ihrer Zunge den nassen Glibber aus meinem Fell. Das tut gut! Langsam werde ich trockener und es regt meinen Kreislauf an.
Ich erzähl Euch am besten erst mal was ich hinter mir hab: meine Ma hat beschlossen es reicht, 9 Monate und 14 Tage sind genug. Basta! Also hat sie heute abend pünktlich zur Stallarbeit mit den Wehen angefangen. Unsere Chefkuh hat noch schnell nach der Frieda telefoniert, ob die auch dabei sein will. Es tät jetzt losgehen aber sicher noch 2 Stunden dauern. Nun, da hat sie die Rechnung ohne uns gemacht. Die Hedda hat mich quasi zwischen Karotte und Heu verloren. Wie alle Wagyu-Kälber bin ich klein gefallen, das macht das Kalben leicht.
Und wie ich inzwischen weiß hab ich schon Geschwister, also hat sich die Hedda nicht ernsthaft anstrengen müssen. Erst als ich meine Hinterbeine angezogen hab ist sie aufgestanden, hat sich umgedreht und angefangen mich sauber zu lecken. Ab und an hat meine Oma, die Hanna, einen kurzen Blick rübergeworfen, ob denn alles seine Richtigkeit hat.
Ihr müßt wissen, bei Rindern bleiben Kuhfamilien zusammen und weil meine Oma auch noch ganz oben im Rang steht, muß die mächtig aufpassen, daß alles gesittet zugeht. Könnte ja sonstwas passieren. Nach einer Weile hat sich die Hedda, Ihr wißt schon meine Ma, hingelegt damit die Nachgeburt noch raus kann. Die hat sie mit einem sanften Schmatzen noch warm gefressen. Gar nicht eklig, andere Leute schmieren sich das Zeug ins Gesicht. Da ist es im Magen von meiner Ma schon besser aufgehoben.
Ich hab mich derweilen verschnauft von der ganzen Anstrengung und ein bißchen hin und her gedreht im Stroh. Außerdem hat sich der Ulli vorgestellt, der ist dreieinhalb Monate älter und der Sohn von der Hanna (meiner Oma). Ziemlich skeptisch hat er dreingeschaut am Anfang, so was hat er auch noch nicht gesehen. Er meint er würde mir schon beibringen wie der Hase hier läuft. Mal sehen was er zu sagen hat, ganz doof bin ich ja auch nicht - ein Mädchen schließlich!
Endlich ist es ruhiger geworden, die Leute essen jetzt Pizza, die Hanna und der Ulli stehen vor dem großen Heuberg und suchen sich die besten Stengel und die Hedda und ich liegen hinten im Eck und machen auf gemütlich. Ein paarmal hab ich das mit dem Aufstehen schon probiert, aber so ganz klappt es noch nicht. Meine Beine haben einen Knoten, oder so ...
Schließlich schaff ich es doch, wacklig aber immerhin. Also das ist schon eine extra schwierige Geschichte mit dem Gleichgewicht und dann noch 4 verschiedene Füße koordinieren. Jedes Bein will in eine andere Richtung und ich soll alles zusammenhalten. Schwer, das ... und es hilft auch nicht wirklich wenn die Hedda von hinten wieder das vehemente Ablutschen anfängt, da lauf ich Gefahr vornüber ... nein, hurra, ich hab keinen Purzelbaum gemacht. Von jetzt an wird das immer sicherer gelingen! Ich seh mich schon im Galopp dahin fliegen. Aber vorerst hab ich Durst ... Wo ist denn nur dieses Euter?
Diese Quelle der erbauenden und kräftigenden Milch? Ich such an allen möglichen Stellen die mir opportun erscheinen. Meine Oma hat vier einladend große Zitzen, aber da stellt sich der Ulli quer davor. Er meint das seien seine. Pfft, soll er, ich hab meine eigene Milchbar! Nur finden muß ich sie noch, wo ist denn nur ... ach herrjeh, fast hätt ich sie übersehen ... herrlich warme Milch, so süß und dickflüssig, lecker ... später werde ich lernen, daß das mit meiner Ma nicht immer so einfach geht. Aber jetzt? Für's erste blanker Genuß!
Uff, fühlt sich mein Bauch jetzt voll an. Ich bin ja so was von satt! Jetzt brauch ich erst mal ein Plätzchen zum Erholen und Verdauen. Ob mich der Ulli wohl dazu läßt? Es ist schon spät geworden, die Leute gehen auch alle nach Hause. Der letzte macht das Licht aus.
Morgen ist auch noch ein Tag ...
Also ich hab das doch noch hingekriegt mit der Milch von der Oma! Der Trick ist zu warten bis der Ulli Durst hat und wenn die Hanna ihn dann saufen läßt stell ich mich ganz unschuldig so dazu, daß sie mich ned sieht und such mir eine andere Zitze und voílà. Wo ein Wille, da immer ein Weg!
Aua, zefix, aua! Die blöden Ohrmarken! Sollen ja so toll sein und um so viel besser als die früheren Metall-Ohrmarken; also ich weiß ned, ich mag die quietschgelben Teile trotzdem ned. Schaut nur mal was die Ecke von der Ohrmarke mit meiner Haut am Ohr gemacht hat. Das andere Ohr schaut genauso aus. Was soll ich machen, ich muß doch meinen Kopf schütteln bei all den Fliegen, Bremsen, Mücken und immer wenn ich anderer Meinung bin. Vielleicht kann unsere Chefkuh die rausmachen, wenn sie das Malheur entdeckt. Wir haben ja immerhin alle Transponder, können jederzeit anders identifiziert werden. Ehrlich? Wer uns kennt, ruft uns mit Namen, ganz ohne Nummern!
Im Mai 2021 entdecke ich zufällig an unserem Transporter ein Rotkehlchen-Nest, das Laub und die Zweiglein untenherum haben es verraten. Ausgerechnet dieses Jahr ist es als Vogel des Jahres ausgerufen. Hat sich das Vöglein eine schlechte Stelle rausgesucht, denn wenn der Schwarze - das ist unser erfahrener Hofkater - das merkt ist es um den Nachwuchs geschehen. Die Chefkuh hat dann am Boden ein Netz ausgelegt um die Neugier vom Schwarzen auszubremsen. Das Rotkehlchen hat sich nicht stören lassen und selbst wenn es ausgeflogen war haben die Eier ihre Temperatur gut gehalten. Liegt wohl am Nistmaterial. Nach 10 Tagen waren die Kücken da und die sind nach 14 Tagen wieder ausgezogen. Schnell ging das und alle haben das Fliegen bald rausgehabt. Ich mit meinen 4 Beinen komm da nicht mit.
R.I.P. am 22.11.22 mit einer Kartoffel im Maul ...