Legend's Helen
Nein, nein und nochmals nein: ich will nicht länger warten! Hab's Euch doch schon vor 5 Tagen gemeldet, daß ich raus will. Da hat meine Mama, die Hanna, damals einen kräftigen Tritt von mir gegen die Rippen gekriegt, so heftig, daß unsere Chefkuh gemeint hat, jetzt geht's allemal los. Aber bis ich meine Füße sortiert hab und mich nach oben gerichtet hab, hat es halt ein bißchen gedauert. Die Chefkuh hat immer gesagt, derweilen wird die Milch in Mama's Euter kalt. Aber jetzt, am 15.12.2021 kurz nach 11.00 Uhr, ist es geschafft und ich kann endlich die Welt draußen sehen. Ihr wißt schon: erstens sind Mädchen furchtbar neugierig und zweitens, was sie sich mal in den Kopf gesetzt haben ...
Mein erster Eindruck? Brrrr, kalt ist es. Lacht nicht, es ist wirklich zum Frieren. Legt Euch doch mal selber waschelnass bei 4°C ins Stroh. Immerhin "plus". Sonst wäre es eisig. Mag gar ned dran denken. Und kaum tu ich meinen ersten Schnaufer und überleg ob ich wieder zurück geh, weil's so kalt ist, kommt die raue Zunge von der Hanna und lutscht mir den Schleim aus dem Fell. Bin danach zwar immer noch nass, aber weniger klebrig und frisch frisiert. Weil so eine Geburt anstrengend ist und Hunger macht, jawohl, da arbeitet ned bloß die Mutterkuh, hab ich versucht mich dem lockenden Euter zu nähern. Also im Liegen geht da gar nix. Da muß man allen Ernstes aufstehen. Menschenskinder, noch Ebbe im Bauch und schon wieder arbeiten? Aber ich hab's nach ein bißchen rumprobieren geschafft und die Milch war eine tolle Belohnung! Warm war sie dann doch noch ...
Jetzt hätt ich fast vergessen mich vorzustellen: ich bin die Helen, Legend's Helen. Das kommt von der schönen Helena, Ihr wisst schon, die griechische Göttin der Schönheit. Mein Pa ist der Enduro, das ist der gleiche Bulle wie der Vater vom Ulli. Wir sind also Vollgeschwister. Freundlicher ist der Ulli aber deswegen nicht zu mir. Nachdem er nach mir ausgeschlagen hat, hat ihn die Chefkuh erst mal vor unsere Boxentür gehängt. Zum Bill in die Box gegenüber wollte er auch nicht. Naja, ich werde ja sehen wo es sich hin entwickelt.
Kuckt mal, mittlerweile bin ich trockener. Es geht auf den Abend zu und die Chefkuh hat noch mal nach uns geschaut. Erst hab ich sie angeschnuffelt, dann hab ich sie zum Spielen eingeladen. Da muß man mit staksigen Sprüngen im tiefen Stroh so lange hin und her hüpfen bis man umfällt. Das ist recht schwierig, das Springen, weil man ja den Spielkameraden in spe nicht aus den Augen verlieren will. Das Umfallen ist leicht. Hat aber nix geholfen, sie wollte nicht spielen. Dafür hat sie mich hinter den Ohren und unten am Brustbein gekratzt. Das gefällt mir auch gut.
Heute feier ich meinen ersten Geburtstag, eine Woche bin ich alt! Eine ganze Woche! Und was sich in diesen 7 Tagen alles ereignet hat, kaum zu glauben was hier alles los ist. Als erstes die Sache mit den gelben Ohrmarken. Schaut Euch das Bild einmal genauer an. Und? Was fällt Euch auf? Das sieht man doch sofort, sie sind falsch herum drin! Hinten ist vorn und vorn ist hinten! Mönsch, was sind die Zweibeiner doch doof, nicht mal Ohrmarken reinmachen beherrschen sie. Und nun muß ich mein Leben lang mit dem Desaster rumlaufen. Die anderen Rinder lachen jetzt schon darüber ...
Ich bin schon viel sicherer beim Laufen und fall nicht mehr um. In der Tat ist sogar mein Bruder, der Ulli, wieder für ganz in unserer Box und nicht bloß beim Fressen. Ich kann ihm mittlerweile besser ausweichen und er ist vorsichtiger mit mir geworden. Unsere beider Mama, die Hanna, hat ihn am ganz kurzen Gängelband und passt schwer auf, daß er freundlich ist zu mir. Ich probier immer wieder mal das dreibeinige Stehen, das muß ich aber noch üben, wenn ich mich hinter den Ohren kratzen möchte. Das erfordert richtig viel Gleichgewicht ...
Da ist unserer Chefkuh eine schöne Portraitaufnahme von mir geglückt. Sie sitzt immer ein bißchen mit in unserer Box und schaut was ich so treibe. Da kriegt sie jeden meiner (Fort-)Schritte mit. Am 2. Tag hab ich schon bei der Mama geschaut, was sie da so frißt. Es ist grün, furchtbar trocken, lauter Stengel und Blätter. Sie nennen es Heu. Und das soll schmecken?? Also mir ist meine Milch lieber. Trotzdem hab ich auf so einem langen Blatt mal herumgekaut, was macht man nicht alles um sagen zu können man hat's wenigstens versucht ...
Milch ist meine liebste Nahrung. Und meine Ma hat genug davon. Ich probier immer alle 4 Zitzen durch und weil ich zu faul bin immer auf die andere Seite zu laufen mach ich das vor allem von ihrer linken Seite aus, so war das von Anfang an und spart viel Zeit und Strecke. Trotzdem hab ich am dritten Tag angefangen Wiederzukauen. Das geht, auch wenn's keiner glaubt. Der Ulli hat das auch schon so früh hingekriegt. Damals war die Chefkuh so perplex, daß sie ganz vergessen hat das mit der Kamera zu dokumentieren. Bei mir hat das jetzt aber geklappt, ich hab's ihr ein paar mal gezeigt. Also erst einmal legt man sich entspannt hin dafür, dann kaut man ganz schnell, dann immer langsamer, dann macht man eine Pause und schließlich fängt man den Zyklus noch mal von vorn an. Vielleicht kann unsere Chefkuh das noch hier einstellen, wenn's geglückt ist, das Video. Sie wundert sich ja mächtig was es denn da zum Wiederkauen überhaupt bei mir gibt. Na, die 3 Blätter halt von gestern. Meine Ma, die Hanna, hat gesagt: "Kind, mach nur; das brauchst Du für später, da muß das funktionieren aus dem ff."
Was ich noch gelernt hab? Im Heu liegt man weicher als im Stroh. Wenn ich einen großen Haufen Heu entdecke, leg ich mich ganz schnell mitten drauf. Die anderen müssen dann um mich herum fressen, ich tue als würde ich schlafen, dabei schau ich ganz genau hin wie sie das machen mit dem Heu fressen. Das braucht eine bessere Technik als wie ich es bislang mach. Ich kaue lange auf so einem Blatt herum bis ich es endlich hinuntergewürgt habe. So trocken, das ...
Also das ist mir jetzt fast ein wenig peinlich, aber beim Ulli hab ich auch geschaut ob er ein Euter hat. Dann wäre eine zweite Bezugsquelle da. Aber was soll ich Euch sagen? Da war nüscht, kein Euter, keine warme Milch, nüscht. Was für eine Enttäuschung. Aber seit der Zeit darf ich auch unter seinem Bauch durchschlupfen wenn mir der Umweg hinten oder vorn herum zu weit ist. Dafür nimmt man kurz Anlauf, macht sich klein und schwupp ist man durch.
So sieht das also aus wenn ich mich überall dazwischen mogel. Das ist der Bauch vom Ulli unter dem ich grad steh, und als großer Bruder nimmt er es gelassen hin, auch wenn es ihn ab und an kitzelt.
Was ich da um den Hals habe? Eine Krawatte ist es, weil Sylvester ist. Wir feiern den Jahresübergang von 2021 nach 2022. Wir sind ein vornehmer Stall! Bei uns hängt sogar ein van Gogh an der Wand! Da versteht es sich von selber, daß wir auch Krawatte tragen zu besonderen Anlässen.
Aaaalso, das mit der Krawatte hat eigentlich einen anderen Grund ;-) . An Sylvester war Frühlingswetter, die Sonne hat gescheint und es ging kein Wind. Da hat unsere Chefkuh beschlossen, wir dürfen hinaus und hat das große Scheunentor aufgemacht. Da ist es herinnen ganz hell geworden und die Mama hat sich gleich riesig gefreut. Weil ich noch nie draußen war hat die Chefkuh mir die Krawatte umgebunden, damit sie wenigstens einen kleine Griff an mir hat, hat sie gemeint. Aber wie es so ist, kam alles ganz anders. Boxentür auf und die Mama und der Ulli sind mit Freudensprüngen losgewetzt. Ich hab mir das von herinnen angesehen - und mich erst mal auf den besten Platz im Heu gelegt. Wäre ja noch schöner wenn man den anderen einfach nachläuft und die Situation nicht für Besseres nutzt. Die Hanna, meine Ma, kam gleich wieder zurück um zu sehen wo ich bleibe. Dann ist sie wieder umgedreht und Schritt für Schritt noch einmal langsam hinaus, hat nach mir gemuht, aber mir war es zu gefährlich. Kenn ich mich aus da draußen? Nein, also bleib ich herinnen. Nach einer halben Stunde hat meine Ma dann frustriert aufgegeben. Drei Tage haben sie es noch versucht, ohne Erfolg. Dann wurde es wieder kalt, verregnet und greislich. Da blieb das Tor wieder zu. Aber die Krawatte krieg ich jetzt jeden Tag um, zum Üben sagt die Chefkuh.
Die Geschichte wie der echte van Gogh in unseren Stall kommt geht so: Unsere Chefkuh seine Mama hatte im Wohnzimmer dieses Ölbild, von einem Nachbarn gemalt. Unsere Chefkuh fand es furchtbar bunt, grell in den Farben, aber weil sie mal einen Kunstleistungskurs besucht hat (das war im letzten Jahrtausend) war sie der Meinung, irgendwer hätte sich offensichtlich Gedanken zur Komposition gemacht. Der Ochsenkarren steht absolut zentral in der Mitte und um diesen Effekt noch zu verstärken ist das Rad wie eine Schießscheibe genau zentral. Tja, den van Gogh hat sie erst erkannt wie sie es hinten drauf gelesen hat: "Die Ernte". Und weil das Motiv mit dem Karren grad passt, hängt das echte Ölgemälde jetzt bei uns im Stall.
In meinem Alter (etwa 2 Wochen alt) muß man alles probieren, ich beiß hier grad richtig fest in die Sprossen einer Aluminium-Leiter. Die hat die Chefkuh ans Boxentor gebunden, damit ich ned untendurch schlupf. Also, Geschmack hat die Leiter keinen, außer es klebt noch ein bißchen Heu dran. Nachgeben tut sie auch ned. Da kau ich dann schon lieber Holzstücke, wir haben einen halbierten alten Stamm vor der Tür, auf dem rumkauen macht Spaß.
Jetzt mit drei Wochen kann ich schon viel mehr Heu auf einmal ins Maul nehmen, das ist aber auch ein weiches Grummet. Ich hab gelernt meinen Kopf ganz tief hineinzustecken, weil die besten Sachen findest man ganz unten, Heublume zum Beispiel. Die Chefkuh sagt, das sei wie in einer Handtasche; egal was man sucht es ist zu unterst. Wenn ich dann so mit dem Kopf mitten drin steck im Heu, mach ich es wie meine Ma und schieb schnell und fest nach links und rechts. Bloß daß bei mir halt noch nix durch die Luft fliegt, dazu braucht man offensichtlich Hörner, die hab ich leider noch nicht. Nur Cent große Knöpfe wo die mal wachsen werden. Ich hab noch viele andere Sachen entdeckt, das warme Wasser im Tränkebecken, die weißen Salzbrocken im Futtertrog, den klebrigen Melasse-Eimer mit den Spurenelementen, den gelben Maisbruch, der so gut riecht ...
Ich bin jetzt dreieinhalb Monate alt, das kleine, grüne Anfängerhalfter liegt in den letzten Zügen. Demnächst krieg ich ein neues, da freu ich mich schon drauf. Jetzt ist März 2022 und das wird dann ein richtig tolles "Ich komm in die Schule"-Fest. Immerhin kann ich schon stehenbleiben beim Halfter rauf und wieder runter machen, da gibt es immer Streicheleinheiten dafür. Am Hals und unten am Triel, da mag ich es am meisten.
Hier steh ich im Juni 2022 auf unserer Koppel und überleg mir was Neues. Das letzte Feature das mir beim Spazierengehen mit der Chefkuh eingefallen ist: Purzelbaum schlagen. Das geht ganz hervorragend und immer wenn mir etwas ned so in den Kram passt probier ich mein Glück. Erst tauch ich scharf nach rechts unten weg, damit komm ich immer mal durch weil ich den Überraschungseffekt nutze und der Karabiner aufgeht. Zieht die Chefkuh an der Führleine, weil sie meint ich soll bei Ihr bleiben, kann ich aber den Schwung nutzen und überschlag mich dann. Purzelbaum! Ein paar Mal konnte ich danach nach Hause laufen, einmal hab ich die Chefkuh sogar aufs Kreuz gelegt; ich glaub das fand sie nicht so prickelnd. Dann hat sie die Franziska mitgenommen wenn wir spazieren gegangen sind, gegen 2 Führstricke kann ich leider nicht anstinken. Und wenn sie mich dann an den nächstbesten Baum binden, bis ich wieder einen normalen Blutdruck hab, ich sag Euch da geht der Punk ab. Die Chefkuh meint, das sei wie bei kleinen Kindern, die sich vorm Süßigkeiten-Regal auf den Boden werfen und schreien und um sich treten, damit sie ihren Willen durchsetzen. Was ist ein Süßigkeiten-Regal?
... und dann hat die Hedda bei meiner Erziehung geholfen. Die kann mich bremsen und schaut meinen Purzelbäumen gelassen zu. Wobei ich gestehen muß, ich komm schon gar nimmer ganz rum mangels Anlauf. Immerhin lernt sie mir so ganz nebenbei auch was die Kommandos bedeuten, sie macht es mir einfach vor.
Wieder was Neues: ein Voltigiergurt. Hat mir die Chefkuh einfach um den Brustkorb gebunden und mich damit losgeschickt. Erst war es ein komisches Gefühl so hinter den Ellbogen, aber kurz danach gab es was zum Fressen und da muß ich einfach Prioritäten setzen. Mit vollem Maul stört er nicht mehr.
Im Dezember 2023 schneit es und kann gar nimmer aufhören. Bis zum Bauch geht das kalte Zeug, iiihhh, wie sich das anfühlt... Es ist aber nur 3 Tage liegengeblieben, dann war alles wieder weggeschmolzen
... und dann das: blühende Iris im Februar 2024. Das Frühjahr fängt diesmal besonders früh an. Die ersten Schwalben sind schon Ende März da und kurz darauf fangen die Kirschen, Äpfel und Magnolien an zu blühen. Alles 4 Wochen zu früh. Bienen oder Hummeln seh ich in unserem Kirschbaum leider keine, hätte doch summen und brummen müssen. Dafür wird es im April noch mal richtig kühl, mit Schnee und Graupel. Bleibt aber nicht lang liegen.
Gehört auch zum Februar: mal wieder ein Bild von mir. Die Chefkuh meint ich hätte inzwischen ein richtiges Teenager-Gesicht, also nicht mehr so rund und knuffig wie bei einem Kalb aber in den Proportionen auch noch nicht so ausgefeilt wie bei einer erwachsenen Kuh. Mir ist das egal, bin bloß stolz auf meine recht langen Hörner, da kann ich mir gut Respekt verschaffen. Ich bin die Einzige die mal eben beim Bill neben seinem Kopf unter den Hörnern durchtaucht, wenn er sich wieder quer vor den Futterbarren stellt und behauptet das sei alles seins.
Im Mai 2024 aufgenommen. Gut zu erkennen die miserable Hornqualität an den Spitzen meiner Ausleger. Wir rätseln alle noch denn das sind Reste vom letzten Jahr, aber das war meine Purzelbaum-Zeit, also seht hektisch. Wir werden Lorbeer-Öl draufmachen, damit sollte es zumindest weniger spröde sein.
Wir stehen im dichten Teppich aus Gras und überlegen wo wir anfangen sollen. Über uns und nicht im Bild, dafür mindestens genauso verlockend, Ahornblätter, meine Leibspeise! Und dann steht da noch die Chefkuh, aber es sieht so aus als hätte sie keine Karotten in der Hand. Wohl eine Tasse Kaffee...