Wie sehen Rinder die Welt?
Wenn man versteht wie Rinder denken hat man viele Vorteile beim Umgang mit ihnen ...
Wenn wir mit Rindern umgehen, sollte unser Hauptziel sein, das angestrebte Ergebnis mit möglichst wenig Unruhe zu erreichen.
Wenn wir unsere Rinder - durch ungeeigneten Umgang oder weil wir eine falsche Vorstellung davon haben wie Rinder ihre Umgebung wahrnehmen - stressen und aufregen, werden wir eine eskalierende Situation schaffen und die Tiere im ungünstigsten Fall aus der Hand verlieren.
Es dauert über 30 Minuten bis sich ein erhöhter, aufgeregter Herzschlag beim Rind wieder normalisiert; regelmäßige Kollateralschäden von belastendem, unangebrachtem Umgang mit Rindern sind blaue Flecken und Verletzungen bei allen Beteiligten; das verursacht nicht nur Schmerzen bei den Betroffenen sondern auch Millionenverluste in der Fleischindustrie jedes Jahr.
Stress
- - verringert die Fähigkeit des Körpers Krankheiten zu bekämpfen
- - reduziert Gewichtszunahmen im Mastbereich
- - läßt Tierverluste steigen
- - stört die Pansenfunktion
- - kann die Fruchtbarkeit beeinträchtigen
- - kann unmittelbar Sicherheitsaspekte beim Umgang mit Rindern betreffen
- - kann unsere Arbeit mit den Tieren stören bzw. völlig unmöglich machen
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Es ist ein offenes Geheimnis, daß Rinder ein sehr gutes und langes Gedächtnis haben und ich bin sicher, das trifft ganz besonders auf Texas Longhorn Rinder zu. Legendär sind zB. die TLH-Ochsen die wegweisend die großen amerikanischen Rindertrecks zahllose Male in beiden Richtungen angeführt haben. Rinder, mit denen unsachgemäß gearbeitet wurde, werden sehr wohl auf ihre Erinnerungen und Erfahrungen zurückgreifen und zukünftig Schwierigkeiten beim Umgang bereiten. Tiere mit denen sanft und freundlich gearbeitet wird, gewöhnen sich schnell daran und das offensichtlich mit minimalsten Stress-Reaktionen.
Rinder haben ein Weitwinkel-Gesichtsfeld
Um zu begreifen wie man mit Rindern am besten in einem Stress-freien und ruhigen Umfeld arbeitet müssen wir versuchen die Welt durch die Augen unserer Tiere zu sehen.
Rinder sehen Farben - im Gegensatz zu allem was gelehrt wird. Charly konnte die Farbe rot nicht ausstehen und hat sie mit Sicherheit erkannt. Eine markant orange-farbene Sicherheitsweste, aufgehängt am falschen Ort, wird ein Vorbeitreiben unmöglich machen.
Die Sehstärke von Rindern ist nicht wirklich gut und die Anpassungsfähigkeit ihrer Augen an unterschiedliche Lichtverhältnisse ist 5x langsamer als bei uns. Die Linse im Auge kann nicht akkomodieren (sich anpassen), ihre Funktion ist beim Rind anders gelöst: unten gibt es einen Nahsichtbereich, hier sehen die Rinder scharf, oben gibt es einen ehr unscharfen Fernsichtbereich. Dafür ist das Bewegungssehen wesentlich besser als bei uns: unser Auge erreicht eine Grenze bei etwa 18 Bildern pro Sekunde als Einzelwahrnehmung, deswegen werden Filme mit mehr als 24 Bildern pro Sekunde gedreht um einen flüssigen Bewegungsablauf zu zeigen. Rinderaugen können bis zu 60 Bilder pro Sekunde einzeln verarbeiten! Also keine hektischen Bewegungen ...
Sie haben ein Weitwinkel- bzw. Panorama- Gesichtsfeld. Nur als Beispiel: Rinder können rundum in einem Winkel von bis zu 340° sehen, wir sehen nur 180°. Dieses enorm große Gesichtsfeld ermöglicht es einem Rind hinter sich zu sehen ohne den Kopf umwenden zu müssen, ausgenommen davon ist ein kleiner Bereich unmittelbar hinter ihnen. Dieses Weitwinkel-Gesichtsfeld erlaubt aber auch einer sich bewegenden Rindergruppe visuellen Kontakt zu anderen Herdenmitgliedern zu halten und ermöglicht ohne weiteren Aufwand das Zusammenbleiben aller.
Eine Nebenwirkung dieses Weitwinkel-Gesichtsfeldes ist, daß alles verkrümmt und deformiert erscheint, ganz besonders am äußeren Rand des Gesichtsfeldes. Ein Pfosten der uns gerade erscheint, wird einem Rind gekrümmt vorkommen, vorstellen kann man sich das wie bei einem Weitwinkel- bzw. Fischaugen- Objektiv vor einer Kamera.
Tiefenwahrnehmung
Tiefenwahrnehmung bedeutet, das Hirn macht aus einem 2-dimensionalen Bild auf der Netzhaut des Auges eine 3-dimensionale Vorstellung. Dazu bedient sich das Hirn vieler Hinweise, u.a. auch des stereoptischen Tiefensehens. Wo das menschliche binokulare Sehfeld (das dreidimensionale Sehen zum Abschätzen von Entfernungen) bis zu 140° beträgt, haben Rinder nur maximal 50° zur Verfügung. Das hängt damit zusammen, daß ihre Augen anatomisch wesentlich weiter zur Seite verlagert sind (was ja den Rundum-Blick ermöglicht) und deswegen vorn nur ein Winkel von 50° im Sehbereich überlappend abgedeckt wird. Nur hier kann eine genauere Entfernung eingeschätzt werden.
Im Tausch für das hervorragende Panorama-Gesichtsfeld das unsere Rinder haben, müssen sie sich mit einer miserablen Tiefenwahrnehmung zufrieden geben, ganz besonders wenn sie mit erhobenem Kopf durch die Welt laufen.
Diese schlechte Tiefenwahrnehmung erklärt, warum Rinder vor Schatten und seltsamen Objekten am Boden erschrecken, bis sie die Gelegenheit bekommen ihren Kopf für eine genauere Inspektion zu senken. Für Rinder sieht ein Schatten wie ein tiefes Loch aus, das man mit Sicherheit erst genauer inspizieren muß bevor man sich auf eine eventuelle Überquerung einläßt. Tiere, die ihren Kopf nicht senken können weil sie zB. an einem Halfter geführt werden, können vor Dingen, die wir Menschen nie in Frage stellen mit unserer hervorragenden Tiefenwahrnehmung, eine Neigung zum Scheuen entwickeln.
nach einem Artikel von Larry Smith II, Mitglied im Vorstand der ITLA
Scharfsehen
Weil sich die Linsen des Rinderauges schlecht verändern (akkommodieren) lassen, können Rinder nur bedingt scharf sehen. Das Objekt ihres Interesses muß sehr nah sein um von ihnen deutlich und scharf begrenzt gesehen zu werden. Dazu müssen die Tiere ihren Kopf senken können, was am Halfter geführt missverstanden werden kann oder einfach unmöglich ist. Also stehen sie vor spiegelnden Wasseroberflächen und vor Gullideckeln ...
Übrigens: unmittelbar vor ihrer Nase haben sie einen weiteren blinden Fleck, wo sie nichts sehen.
Lichtempfindlichkeit
Das Auge des Rindes weist eine Besonderheit auf womit es sich von unserem deutlich unterscheidet: es hat ein sog. "Tapetum lucidum", das ist eine reflektierende Pigmentschicht die bewirkt, daß das Licht quasi 2x an den entsprechend empfindlichen Nervenzellen vorbei kommt (beim Einfall und bei der Reflektion im Auge). Dieses Tapetum läßt nicht nur in der Nacht die Augen aufleuchten wenn unser Taschenlampenstrahl sie trifft, sondern bewirkt auch eine wesentlich bessere Ausbeute bei dunklen Lichtverhältnissen. Rinder sehen also in der Dämmerung wesentlich besser als wir. Das wird allerdings mit einem Nachteil einer größeren Blendneigung erkauft. Lichtreflexe und Schatten lösen unter Umständen ängstliche Reaktionen aus.
Rechtes Auge - Linkes Auge Egal?
So einfach wie es scheint ist es nicht. Die auflaufenden Informationen aus dem Auge werden in der gegenüberliegenden Hirnhälfte verarbeitet. Weil die rechte Hirnhälfte für Gefahren zuständig ist, wird das linke Auge für genau diese Information bevorzugt eingesetzt. Vielleicht ist es deswegen sinnvoll von links zu führen und quasi immer als Partner präsent zu sein?