Rinderverhalten

Rinderverhalten

Die Fluchtdistanz

Die Fluchtdistanz ist der Mindestabstand, den unser Rind zu einem anderen (ggf. bedrohlichen) Lebewesen einhält, ohne dass es flieht. Das ist nicht zu verwechseln mit der Individualdistanz die sich immer auf den Abstand zweier Individuen der gleichen Art bezieht!

Der Schlüssel zum einfachen und ruhigen Umgang mit den Tieren liegt im Begreifen der Bedeutung von diesem Bereich für das Rind. Einfach ausgedrückt: wenn ich in diese Zone eindringe bewegt sich das Tier; wenn ich mich aus diesem Bereich zurückziehe bleibt das Tier stehen. Alle Tiere (auch wir Menschen) haben eine definierte Fluchtdistanz, diese wird durch vielerlei Faktoren beeinflußt, unter anderem

  • - dem Temperament des Tieres
  • - den Umweltbedingungen (Stall, Weide, ...)
  • - der augenblicklichen Stimmung des Tieres und des Menschen
  • - der Anzahl der "Eindringlinge" in diesen Sicherheitsbereich
  • - dem hormonellen Zustand des Rindes
  • - den Erfahrungen des Tieres beim Umgang mit dem "Gegner"
  • - ...
Fluchtdistanz
Abb.1: Fluchtdistanz

Rinder können einfach und leicht bewegt werden wenn man sich am Rand der Fluchtzone aufhält. Der die Tiere treibende Mensch muß nahe genug sein um sie in Bewegung zu versetzen aber nicht so nah, daß er kopflose Panik und Flucht auslöst. Laufen die Rinder zu schnell los, zu schnell für unsere Vorstellung, ziehen wir uns aus dem Fluchtbereich zurück. Um die Tiere in einer gleichmäßigen Bewegung zu halten, bleiben wir am Rand dieses Bereichs, innerhalb dieser unsichtbaren Zone wenn die Rinder schneller werden sollen, außerhalb wenn wir sie langsamer haben wollen. Wir belohnen quasi ein Tier was sich fortbewegt, indem wir zurückbleiben und damit automatisch die Distanz vergrößern. Wenn wir mit Rindern in einem umschlossenen Raum, umzäunten Areal arbeiten, müssen wir vorsichtig sein und dürfen auf keinen Fall zu tief in den Fluchtbereich eindringen: die Rinder können nicht ausweichen was zu Panik führt, zum Versuch Zäune zu durchbrechen oder darüber zu springen oder schlimmer noch zu einem unmittelbaren Angriff auf uns selbst. Selbstverständlich würde unser Rückzug aus diesem Bereich die Situation sofort beruhigen.

Der Schwerpunkt

Das Treiben eines Rindes wird mit Hilfe seines Schwerpunktes bewerkstelligt, der Schwerpunkt, der im allgemeinen als "auf Schulterhöhe" definiert wird. Um das Tier vorwärts zu bewegen müssen wir hinter dessen Schwerpunkt bleiben. Offensichtlich hat unsere Bewegung vor den Schwerpunkt des Rindes zur Folge, daß es rückwärts ausweicht. Um das Tier also vorwärts in Bewegung zu versetzen genügt es wenn wir uns dem Tier unmittelbar hinter dem Schultergürtel nähern. Wir müssen den blinden Bereich direkt hinter dem Rind meiden, weil das ein sofortiges Anhalten und Umdrehen des Tieres zur Folge hat; das Rind möchte uns sehen und zu jedem Zeitpunkt wissen wo wir uns befinden.

Hier kann man gut sehen, wie die Hanna versucht mich im Blick zu behalten wenn ich mich in ihrem blinden Bereich bewege.

Wie treibe ich meine Herde?

Eine Rinderherde ist wie ein LKW: der Laster muß sich erst bewegen bevor ich ihn lenken kann.

Als alleiniger Treiber muß ich, wenn sich die Herde in Bewegung setzt, in einem kleinen Winkel vorwärts laufen, einem Winkel der langsam den Druck aus dem Fluchtbereich der Herde nimmt. Um die Herdenbewegung aufrecht zu erhalten muß ich wieder an meinen Ausgangspunkt zurücklaufen und dieses Treibmuster wiederholen. Die Erfahrung wird mit der Zeit lehren, wie lang jedes dieser Muster sein muß. Es ist wichtig diesen kleinen Winkel einzuhalten, weil ein paralleles Laufen mit der Herde ein Aufspalten derselben zur Folge hat.

Zwei Treiber - eine Herde

Wenn zwei Leute eine große Rinderherde treiben, sollte der Vordermann beim Leitrind bleiben, unmittelbar hinter dessen Schultergürtel am Rand des Fluchtbereichs dieses Tieres. Der Instinkt der Tiere wird auch die Nachzügler dazu bringen, der Herde zu folgen, selbst wenn der 2. Treiber sich etwas vor dem Ende der Gruppe aufhalten sollte. Dieser Treiber sollte sich einem Nachzügler auf dessen Schwerpunkthöhe nähern, im Winkel wie weiter oben beschrieben, und wenn sich das Tier in Bewegung setzt, kann der 2. Treiber wieder an seinen Ausgangspunkt zurückkehren.

Wie arbeite ich mit meiner Herde in einer Einzäunung?

Treiben am Zaun

Da die Tiere durch die Einzäunung nicht ausweichen können, wird der Druck auf die Herde durch eine Bewegung des Treibenden am Rand des Fluchtbereichs der Tiere ausgeübt, die senkrecht zur Treibrichtung, also senkrecht zur Einzäunung stattfindet: vor und zurück, in die Herde hinein und heraus. Es muß gerade genug Druck entstehen, daß die Tiere nicht vom Zaun abweichen aber es darf auf keinen Fall so viel Druck werden, daß es zu Unruhe und Panik kommt. Wenn Rinder aus einem Gatter oder einer Weide umgetrieben werden, sollte ihnen nicht erlaubt werden, einfach hinauszurasen. Das geht am besten in dem wir uns an die Leitrinder heften und diese über ihre Fluchtbereiche steuern.

frei übersetzt nach einem Artikel von Larry Smith II, Mitglied im Vorstand der ITLA

Hitzestress

Rinder geraten besonders bei sommerlichen Temperaturen in Hitzestress. Sie können schlecht schwitzen und haben mit ihrem Pansen quasi eine eingebaute, zusätzlich Hitze erzeugende Biogasanlage im Körper - man spricht von etwa 1500 Watt Wärmeleistung während der ersten drei Laktationsmonate. Rinder sind je nach Rasse mehr oder weniger gut in der Lage überschüssige Körperwärme an die Umwelt abzugeben; das funktioniert über einen großflächigen Triel, aber auch über ein weit herunter hängendes Präputium, über große Ohren und - nicht zu unterschätzen - über ihre Hornoberfläche. Der Temperaturausgleich wird allerdings bei hohen Umgebungswerten und hoher Luftfeuchtigkeit zunehmend schwierig. So gelten 24°C und 70% Luftfeuchtigkeit als kritische Grenzwerte. Trockengestellte Kühe bauen in dieser Situation sogar Körperfett ab, um mangelnde Fresslust auszugleichen und den Embryo mit genügend Nährstoffen zu versorgen. Kühen in der Hochlaktation ist dieser Weg der Stoffwechselanpassung allerdings versagt. Die Kühe stehen länger und bewegen sich weniger je höher die Körpertemperatur steigt, wobei schon eine Erhöhung um 0,5°C diese Verhaltensveränderungen auslöst. Das bedeutet nicht nur eine Verringerung der Futteraufnahme, sondern auch eine Verminderung des Wiederkauens und mangels Liegen eine Milchproduktionseinschränkung. Der Anteil von Ölsäure in der Milch dient als Biomarker für Hitzestress. Mit Schatten, Ventilatoren, Duschen und Wasserverneblern kann man die Tiere bei hochsommerlichen Temperaturen unterstützen. Wir stellen über Mittag das Arbeiten ein und sorgen für eine erquickende Pause.